Der Vorreiter von Ernen
Klaus Leuenberger, der Pionier der Alpenküche, hat sich einmal mehr neu erfunden. Als Dorfbäcker will der Chef, der einst Prinzen, Scheichs, Staatsoberhäupter und Luxus-Kreuzfahrer bekochte, jetzt seine Leidenschaft für regionale Produkte ausleben. Kompromisslos.
Im «St. Georg» ist jetzt alles anders. Im historischen Holzhaus im Herzen von Ernen, in dem seit anno 1535 Heimische und Durchreisende ihren Hunger stillen, sind die Tische weggeräumt, die Stühle in der Ecke gestapelt, die schicken schwarzen Gilets des Personals hängen melancholisch an Wandhaken und warten auf die Rückkehr ihrer Trägerinnen und Träger. Allein der verführerische Duft von frischem Brot, Hefe und Mehl zeugt davon, dass es im «St. Georg» weitergeht. Und wie: Der einstige Gourmettempel ist zur Backstube mutiert, mit integriertem «Speisewerk»-Laden und Take-away-Küche. Der Star-Chef ist jetzt Bäcker und Einmacher.
Diese Mutation hat weniger mit Corona zu tun als vielmehr mit den baulichen Gegebenheiten im mittelalterlichen Gemäuer. Und vorwiegend mit dem Credo des Chefs. Klaus Leuenberger glaubt mit unerschütterlicher Überzeugung an seine Wahlheimat Goms und deren natürliche Gaben. In die Küche / Backstube sollen weitestgehend Produkte aus der Umgebung kommen. Im Haus des Drachentöters St. Georg will der Endfünfziger endlich sein Ding durchziehen, das er seit über zwanzig Jahren als Ziel verfolgt: getreu der Slow-Food-Philosophie radikal regional arbeiten, ohne Kompromisse.
So kommt auch der Roggen für seine Brote aus dem benachbarten Grengiols. «Der Roggen ist ein Nebenprodukt der berühmten Grengioler Tulpen, eine wilde Sorte, die weltweit nur hier auf der Chalberweid gedeiht. Die Tulpen lieben die Gesellschaft von Roggen, also baute man zwischen den Tulpen solchen an. Lange wurde das Getreide aber nicht verwendet. Der Aufwand, es zu ernten und zu spelten, war allen zu gross. «Ich fand das jammerschade. Jetzt erledigt das ein Freund für mich», erklärt Leuenberger.
Sein Erntehelfer ist ein Verwandter im Geist: Andreas Weissen, Walliser Urgestein, Vollblut-Grüner, legendärer Sagenerzähler, Gründer und Präsident der Alpen-Initiative. Die 200 bis 300 Kilo Tulpenroggen, die jährlich anfallen, mahlt und verarbeitet Leuenberger zu kompakten, chüschtigen Pfündern und Halbpfünderli, einmal wöchentlich. Dazwischen bäckt er Biscuits, Nussstangen («die gehen immer noch warm weg, ein Bestseller») und mehrere Sorten Sauerteigbrote.
Er springt damit in die Lücke, die der Dorfbeck German Ruppen vor drei Jahren mit der Ladenschliessung hinterlassen hat. Die Sauerteige, quasi die gehätschelten Haustierli im «St. Georg», züchtet Leuenberger selber, sie ruhen in den Tiefen des Gewölbekellers. Rat und Hilfe im neuen Metier bekommt der Meister von Robert Turzer, seinem ehemaligen Gartengehilfen im «Ernengarten». Dass dieser gelernter Bäcker ist – ein Glücksfall für Leuenberger.
Die Terroir, die jeder intelligente Koch auf seiner Speisekarte fördert, ist für Klaus Leuenberger seit langem eine Selbstverständlichkeit. Er kaufte bereits in der Region ein, als er vor vierundzwanzig Jahren ins Goms zog, um das Saint-Georges zu übernehmen. "Nachdem ich viele Jahre im Ausland gelebt hatte, war ich erstaunt über die Fülle an wunderbaren Produkten, die ich nur einen Steinwurf von meinem Restaurant entfernt finden konnte." Diese Entdeckung kam einer Offenbarung gleich. Er war es gewohnt, nur die besten Zutaten zu verarbeiten, und hatte in grossen Küchen auf der ganzen Welt gearbeitet, unter anderem bei Scheichs in Katar, wo er Abendessen für Staatsbesuche organisierte.
Für Leuenberger eine Offenbarung. Den Umgang mit besten Zutaten war er gewohnt, hat er doch in Top-Küchen rund um die Welt gearbeitet. Beim Scheich von Katar, wo er Bankette für Staatsgäste ausrichtete. In Warschau im Hotel «Bristol» kurz nach dem Kollaps des Kommunismus. Auf der „Queen Elizabeth 2“, dem Prestigeschiff der Cunard Line, wo das Beste, Exotischste und Teuerste aus aller Welt durch seine Hände und die Küche mit 100 Köchen ging. Und in Luxushäusern in Kanada, wo die nächste Einkaufsmöglichkeit 300 Kilometer entfernt war.
Nach vielen Jahren auf Welttournee entschloss sich der gut gereifte Emmentaler Bauernsohn, im Wallis, wo das Gute vor der Haustür wächst, Wurzeln zu schlagen. Und hier im Goms das Beste aus sich und der Natur herauszuholen. Entgegen allen Warnungen bot er im „St. Georg“ Gourmetküche auf Terroir-Basis an. Mit Erfolg. Sein glückliches Händchen beim Einkauf und am Herd überzeugte bald Feinschmecker von nah und fern. Der GaultMillau verlieh ihm 16 Punkte und zollte ihm hymnische Besprechungen. Das Aus kam dann 2016 mit dem Verkauf des Hauses. Küche und Stübli mussten raus aus dem ersten Stock, Ende Feuer im „St. Georg“. Das Angebot, bei der Eröffnung des auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Berglandhof-Hotels Ernengarten mitzumachen, kam da gerade recht.
Drei Jahre lang führte er den Betrieb, hoch motiviert, auch in diesem grossen Haus mit 25 Zimmern und 80 Plätzen seiner Linie treu zu bleiben. Doch das stellte sich als unrealistisch heraus. „In den Zwischensaisons ging das gut, in den Hochsaisons kaum, und ab dem ersten Lockdown gar nicht mehr. Ich musste zu viele Kompromisse eingehen.“ Also ging er. Und kehrte zurück ins „St. Georg“, nur eben reduziert auf einer Etage. „Eigentlich darf ich hier gar nicht kochen. Die Feuerpolizei hat keinen Herd erlaubt, nur zwei Platten, einen Ofen allerdings schon. Was lag da näher, als aufs Backen umzusatteln?!“ Das Kochen hat er aber nicht ganz aufgegeben. Für das „Speisewerk“, den vor zehn Jahren etablierten Onlinehandel mit Gomser Delikatessen, steht er weiterhin am Mini-Herd, produziert Haltbares wie Würste, Wildterrinen, Senf, Jellys, Cholera, Suppen und seit Corona auch Take-away-Menüs. Aus und mit Liebe für Ernen, seine Heimat.
Text: Antia Lehmeier Fotos: Sedrik Nemeth
Publiziert: Oktober 2021
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