Géraldine Fasnacht, die Vogelfrau
Kein Hang zu steil, kein Gipfel zu hoch. Géraldine Fasnacht schnallt sich Ski oder Snowboard, Wingsuit oder Fallschirm an und schwebt verschneite Hänge hinunter. «Ich lebe meinen Traum.»
Charismatisch ist sie, offen und herzlich. Wenn sie spricht, spürt man, was sie fühlt und denkt. Da ist mal Freude, Energie, aber dann auch Traurigkeit und Reflexion. Géraldine Fasnacht wird auch als «Vogelfrau» bezeichnet, weil das Bild mit ihr im Wingsuit, wie sie sich von der Spitze des Matterhorns in die Tiefe fallen lässt, um die Welt ging. Sie ist eine Vogelfrau, weil sie fliegen kann. Aber auch, weil sie aus ihrem Innersten heraus frei ist – frei, das zu tun, was sie am liebsten tut. Mit allen Konsequenzen.
Fliegen hat sie schon als Kind fasziniert. Deshalb ging sie nach der Schule zur Swiss am Flughafen Genf. Aber auch der Schnee übte seit jüngster Jugend eine Anziehungskraft auf sie aus: «Ich bin in Poliez-le-Grand aufgewachsen, aber war jeweils ab dem ersten Schnee in jeder freien Minute mit meinen Eltern in Verbier.» Snowboard ist sie schon damals gefahren, wann immer und so verrückt es ging, aber nie hatte sie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass Schneesport mehr als ein Hobby sein könnte. Géraldine arbeitete zu 100 Prozent am Flughafen Genf und ging einfach wann immer möglich auf die Pisten. Sie war ein Fan – ein Fan der Extremsnowboarder, die sich einmal im Jahr am Xtreme Verbier messen. «Das waren meine Idole. Ich bewunderte alle und hatte den einen grossen Traum: Einmal im Leben wollte ich daran teilnehmen und inmitten all dieser Stars die Bec des Rosses hinunterfahren.»
In der Szene schien die mutige und talentierte junge Frau beobachtet zu werden, denn sie wurde 2002 eingeladen, am Xtreme von Verbier teilzunehmen. «Ich war völlig aus dem Häuschen, und plötzlich war mir klar: Wenn du schon diese Chance bekommst, musst du dich auch richtig vorbereiten. Ich überlegte lange, diskutierte mit meinen Eltern und entschied mich schliesslich, den Job für ein Jahr an den Nagel zu hängen, nach Verbier zu ziehen und zu trainieren.» Ihre Mutter habe ihr Mut gemacht, habe gesagt: «Pass auf, dass du später nicht einer verpassten Chance nachtrauerst. Einen Job findest du immer wieder.»
Géraldine Fasnacht war damals 21, und es begann ein neues Leben: Morgens war sie auf den Pisten, nachmittags arbeitete sie in einem Reisebüro, abends in einem Restaurant. So konnte sie knapp genügend Geld für die Miete, fürs Essen und den Sport aufbringen. Als der grosse Moment kam, reihte sie sich für eine Woche in die Freeride-Szene ein, konnte mit den andern trainieren, war Teil von ihnen. «Es kam mir vor, als wäre ich Alice im Wunderland. Ich hatte erreicht, was ich wollte, und war überglücklich», erinnert sie sich. Am Tag des Rennens sei sie die fast vertikale Wand völlig unbeschwert runtergefahren. «Ich war ja die Jüngste von allen, die meisten waren um die 30 und ich das Kücken. Nichts habe ich erwartet, gar nichts, mein Ziel war nur dabei zu sein.» Doch das Kücken überraschte alle, belegte den ersten Rang und konnte für den Final antreten. Und da wartet gleich der zweite Höhepunkt: «Wir Rider steigen immer zu Fuss auf, für den Final wurden wir aber mit dem Helikopter nach oben geflogen – auch das war für mich ein unglaubliches Erlebnis.» Der Rest ist dann Geschichte: Géraldine gewann auch den Final und ging als jüngste Siegerin des Xtreme Verbier in die Annalen ein. Da war für sie klar: Jetzt mache ich Freeride und Snowboard zu meinem Leben.
Sie nimmt an der Freeride World Tour teil, heimst Preise und Spitzenplätze ein, wird immer besser und zur Vorzeigefrau der Freeride-Szene. Doch etwas fehlt noch: Im Winter, im Schnee, fühlt sie sich zu Hause und ausgefüllt, doch im Sommer weiss sie nicht, wohin mit ihrer Energie und dem Wunsch, weitere Grenzen zu erkunden. Sie lernt Fallschirmspringen und entdeckt ihre Freude am Fliegen. Nach über 300 Sprüngen aus dem Flugzeug dann der nächste Schritt: Sie wechselt zum Basejumping – dem Springen mit dem Fallschirm von einem Felsen oder einem anderen festen Objekt. Von da zum Wingsuit war es nicht mehr weit: 2004 macht sie ihren ersten Flug in einem Gewand, das Flügel nachahmt und den Körper des Menschen so verwandelt, dass er einem Vogel ähnlich wird. «Im Wingsuit fühlt man sich auch wie ein Vogel, es gibt kein grossartigeres Gefühl, als damit in der Luft zu liegen, sich in den Wind zu legen, auf Strömungen zu kreisen», schwärmt die heute 30-Jährige. Weltweit bekannt wurde sie mit ihrem Flug vom Gipfel des Matterhorns, einer Weltpremiere, die sie zusammen mit Julien Meyer wagte. Die Bilder gingen um die Welt, aus Géraldine war endgültig die Vogelfrau geworden. Und wie um zu beweisen, dass es nicht nur um Mut und Spektakel geht, hat sie vor kurzem ein schon fast poetisches Projekt abgeschlossen: Sie flog mit einem Adler zu Tal. Fliegen, der grosse Menschheitstraum, für sie ist er Realität. Klar kommt einem dabei aber auch Ikarus in den Sinn, der mit seinen Flügeln der Sonne zu nahe kam und es mit dem Tod büssen musste. Dieses Gleichnis, das besagt, dass wir das Schicksal nicht herausfordern sollen. Géraldine hat das am eigenen Leib erfahren: Ihr Mann starb beim Speedflying, ihre Schülerin Estelle Balet kam bei einem Lawinenniedergang ums Leben, in einem Couloir, durch das Géraldine Fasnacht noch problemlos runtergefahren war. «Ja, das sind schlimme Erinnerungen. Ich denke täglich an Estelle. Bis jetzt habe ich mich immer gefreut, wenn der erste Schnee kam, dieses Jahr habe ich nichts dagegen, wenns noch ein bisschen dauert.»
Für sich hat sie keine Angst, denn ihre Abfahrten und Flüge hätten nichts mit Abenteuer zu tun, sondern mit teilweise jahrelanger Planung, exakter Beobachtung, minutiöser Vorbereitung. «Tatsache ist einfach, dass ich den Menschen, die ich liebe, in den Bergen am nächsten bin.» Wenn sie einen Berg raufwandere, den Schnee knirschen höre, die majestätische Aussicht vor Augen, dann sei sie ihnen am nächsten. Und: «Wenn ein Freund beim Autofahren ums Leben kommt, geht man ja auch weiterhin auf die Strasse.» Géraldine glaubt daran, dass ein Leben dann komplett ist, wenn man seinem inneren Ruf folgt. Deshalb hilft sie mit einer Stiftung jungen Freeridern, ihren Traum zu verwirklichen. Als Mentorin und finanziell. Frei sein wie ein Vogel – das wünscht sie auch andern.
Interview: Monique Ryser Foto: David Carlier
Frauenpower im Val d’Hérens
Nächste Geschichte