STREET-ART
Im Wallis entsteht ein Freilichtmuseum für urbane Kunst. Sie interpretiert das Kulturerbe neu – im öffentlichen Raum.
Urbane Kunst entsteht dort, wo sie gesehen wird. Sie ist grossformatig, oft farbenfroh und immer ein Hingucker. Gesehen werden will auch das neuste Werk von Issam Rezgui alias Jasm One, Graffitikünstler, Projektinitiant und Präsident des Vereins Art Valais Wallis. Wer einen Schritt aus dem Zermatter Bahnhof macht, schaut unweigerlich auf die Interpretation der Erstbesteigung des Matterhorns durch Lucy Walker, die erste Frau auf dem Berg vor 150 Jahren. Das Werk ehrt das Jubiläum und ist gleichzeitig Startschuss für die diesjährige Weiterführung der Sammlung des künftigen Freilichtmuseums Art Wallis. Diese ist nämlich erst am Entstehen.
Auf Initiative von Issam Rezgui werden in über 50 deutsch- und französischsprachigen Gemeinden des Wallis – vom Obergoms bis nach St-Gingolph – urbane Kunstwerke im öffentlichen Raum entstehen. Im vergangenen Jahr sind bereits acht Werke im Rahmen dieses umfassenden Kulturprojekts von lokalen und internationalen Künstlern realisiert worden. Von Frühling bis Herbst sollen zehn weitere folgen. Parallel dazu wird im Sommer die Applikation «Street-Art Wallis» für Smartphones herauskommen. Sie setzt den kulturellen Parcours zu den Werken rund ums Thema Wasser in Szene. Erläuterungen zum Werk, Informationen zu Künstler und Ort werden verfügbar sein. Zu Zeiten des Coronavirus ist die Schaffung eines Freilichtmuseums für urbane Kunst, für alle kostenlos und jederzeit zugänglich, ein Volltreffer. Art Wallis trägt wesentlich zur Kulturförderung bei und wurde in die Nachhaltigkeitsagenda 2030 des Kantons aufgenommen. «Ziel unserer Street-Art-Werke ist die lokale DNA, die Traditionen und die Umwelt aufzunehmen. Es muss für den Ort einen Sinn haben», so Issam Rezgui. «Wir sollten uns nicht für unsere Folklore schämen, sondern sie immer wieder neu interpretieren», führt er weiter aus.
In Sion aufgewachsen, hat er bereits 2002 die erste legal freigegebene Wand in der Unterführung der Rhonebrücke mit seinen Graffitis besprayt. Danach folgten die Mauern des Freibads. 2008 erhielt er die Bewilligung für 13 Wände in der Stadt. Er gründete damals das erste Sprayer-Netzwerk, «Collectif 21», und lud an die 50 Graffitikünstler ins Wallis ein, um mit ihnen die rund 800 Quadratmeter Fläche zu besprayen. «Das legale Sprayen ändert alles! Das Werkzeug und die Technik bleiben, doch das Vorgehen ist komplett anders. Ich recherchiere zum Ort, zur Geschichte und habe weit höhere ästhetische Ansprüche», erklärt Issam Rezgui.
Die Werke des Freilichtmuseums sind keine Zufallssujets. Kuratiert werden sie von Issam Rezgui und einer dreiköpfigen Jury bestehend aus internationalen und nationalen Experten. Die Auswahl des Entstehungsorts, des Sujets und des Künstlers erfolgt in einem klar definierten Prozess. Dafür wird zunächst die Identität der Gemeinde untersucht, um ein besonderes Merkmal herauszuarbeiten. Die zu bemalende Wand wird validiert, eine der drei vordefinierten grafischen Linien ausgewählt, sei es figurativ in Schwarz-Weiss, grafisch und abstrakt oder als farbige Illustration. Der ausgewählte Künstler oder die Künstlerin wird zum Aufenthalt ins Wallis eingeladen und taucht in die lokale Identität ein. Durch das individuelle künstlerische Universum entsteht eine Neuinterpretation des hiesigen Kulturerbes. Am Beispiel Martigny veranschaulicht Issam Rezgui, wie er nach diesen besonderen Anhaltspunkten, der DNA eines Ortes, sucht: Wie kann Graffitikunst koexistieren mit der Fondation Pierre Gianadda? Seine Recherchen führten ihn zur Mediathek Martigny, welche die visuellen Dokumentationen des Kantons beherbergt, und schon hatte er die Antwort. Die Street-Art-Werke in Martigny werden figurativ, schwarz-weiss oder zweifarbig sein, den Menschen und seinen Bezug zum Wasser abbilden und damit die Brücke schlagen zu den bildhaften Zeitzeugen in der Mediathek.
Ist auch ein Graffiti auf einer Staumauer denkbar? «Ein permanentes Werk wäre unpassend, etwas Subtileres aber denkbar. Etwas, was die Mauer und die Natur inszeniert», meint Rezgui. Herausfordernd war auch der historische Dorfkern von Ernen. Trotzdem haben sie es gewagt – mit einer Projektion.
Text: Manuela Lavanchy
Publiziert: Juli 2021
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