Kleines Dorf ganz gross
Die Einwohnerzahl liegt bei knapp 500, doch im Kulturkalender kommt das Dorf weit vorn : Nun erhält das Musikdorf Ernen den Kultur- und Wirtschaftspreis 2019 des Wallis.
Haben Sie vor Kurzem auch gehört, wie ihr Nachbar erzählte, er habe « die Hurtigruten gemacht »? Und das befreundete Paar « machte Südostasien und Hongkong, nächstes Jahr ist dann Costa Rica dran ». Man stellt sich die Weltkarte der Betreffenden vor, mit Stecknadeln an allen Orten, die sie schon abhaken konnten auf ihrer Tour durch die Welt. Und durchs Leben. Man kann aber auch nach Ernen reisen. Dazu braucht es etwas Mut – denn dieses Dorf kann man nicht « machen ». In Ernen kommt man an.
Biegt man von der Hauptstrasse durchs Goms zwischen Lax und Fiesch scharf gegen Süden ab, fährt man rund drei Kilometer durch eine idyllische Landschaft. Die Strasse wird eng, und plötzlich, nach einer letzten Biegung, ist man mittendrin, auf dem Dorfplatz, von dem enge Gassen in das verwinkelte Dorf mit den schwarz verbrannten Häusern führen. Gepflegte Bauerngärten, eine Katze, die sich in der Sonne räkelt. Fast aus der Welt gefallen, herrscht hier eine Stimmung aus Ruhe und Beständigkeit, eben ganz so, als habe man endlich eine Heimat gefunden.
So erging es auch dem ungarischen Konzertpianisten und Klavierpädagogen György Sebök. Der Weitgereiste, mit einer Professur in Indiana USA, kam in den Siebzigerjahren erstmals nach Ernen. Der begnadete Lehrer erkannte die einmalige Atmosphäre des Dorfes und gründete, nach einem Gespräch mit dem Dorfpfarrer, 1974 die Sommerakademie für junge Musikerinnen und Musiker. Die Klaviere mussten von Genf ins Oberwallis transportiert werden, das Pfarrhaus diente den dreissig Musikern ebenso als Übungsraum wie das am Dorfplatz gelegene Tellenhaus. Zum Abschluss fanden in der unter Denkmalschutz stehenden Barockkirche St.Georg erste Konzerte statt. « Das ist mein Dank an Ernen », begründete der grosse Künstler Sebök. Denn: Kultur hat nichts mit Grossstadt zu tun, Kultur gehört überallhin.
Niemand hätte damals gedacht, dass aus dieser Initiative dereinst das Musikdorf Ernen werden würde, das heute weltbekannte Musiker aus aller Welt währes des Sommer ins Oberwallis lockt. Auch György Sebök konnte nicht voraussehen, dass ihn das Dorf Ernen 1986 zum Ehrenbürger ernennen, der Kanton Wallis ihm 1995 den Kulturpreis verleihen und dass eine damalige Schülerin von ihm heute für die Barockkonzerte zuständig sein würde. Der Ungar war das Herz und die Seele der Musikakademie, die sich zum Festival der Zukunft und schliesslich zum Musikfestival entwickelte. Gross war die Trauer, als er 1999 starb. Auf seinen Wunsch wurden seine Asche und die seiner 2010 verstorbenen Frau Eva in Mühlebach bei Ernen, ihrer Herzensheimat, verstreut.
« Wer das Festival Musikdorf Ernen begreifen will, muss György Sebök begreifen. Er ist immer noch unser Leitstern », stellt Francesco Walter klar. Auch er, der Kulturmanager, ist vor Jahren hier angekommen. Heute ist er Intendant des Festivals, Vorstandsmitglied des Vereins Musikdorf Ernen, aber auch Vizegemeindepräsident von Ernen, Walliser Grossrat und Präsident der kantonalen Kulturkommission. Er hat dem Festival Struktur gegeben, indem heute Konzerte aus den Bereichen Barock, Klavier, Kammermusik, Orgel und Jazz stattfinden. Ihm zur Seite stehen Musikerinnen und Musiker aus den verschiedenen Bereichen als Programmverantwortliche. So auch Ada Pesch, die als junge Frau an einem Meisterkurs von Sebök in Ernen teilgenommen hat und heute Konzertmeisterin des Orchesters des Opernhauses Zürich ist. Auch für sie ist Ernen zur zweiten Heimat geworden, in der sie während der Konzertsaison tagsüber mit Vorliebe das Binntal erkundet. Und nicht nur das: Sie war es auch, die ihre Freundin, die Schriftstellerin Donna Leon, für die Literaturseminare in Ernen begeistern konnte. Auch dieses Jahr kommt die Bestsellerautorin der Brunetti Romane nach Ernen und leitet mit der kanadischen Schriftstellerin Judith Flanders Schreibseminare. Sie ist aber auch an der Gestaltung der Barockkonzerte beteiligt, einer grossen Leidenschaft der Amerikanerin. Sie schafft es, Stars zu verpflichten, oder hilft mit, jungen Talenten eine Chance zu geben. « Wer einmal in Ernen war, kommt immer zurück, das gilt für die Musiker und die Besucher. Höchstes musikalisches Können in familiärer Atmosphäre – das ist einmalig », so Donna Leon.
Beweis für den Spezialfall Ernen ist, dass die Musikerinnen und Musiker für bescheidene Gagen kommen. Nicht einmal, sondern immer wieder. Auch das Publikum ist treu: Das Dorf hat nicht die Infrastruktur, die pro Saison mehr als 6000 angereisten Zuschauerinnen und Zuschauer zu beherbergen. Also sind die umliegenden Hotels involviert, und mit Bussen wird ein Shuttleservice sichergestellt. Die Finanzierung läuft teils über Zuwendungen, teils über Beiträge der Mitglieder des Vereins Musikdorf Ernen. « Unser Budget ist aber stark limitiert », erklärt Francesco Walter.
Der Intendant war es, der den jährlichen Aufführungen ein Motto vorangestellt hat. « Zweisamkeiten » ist der Leitsatz dieses Jahres. Das ist stimmig: Brauchte es doch auch beim Gründer György Sebök dessen Frau Eva, die nach einer ersten Reise nach Ernen ihren Mann dazu brachte, mit nach Ernen zu kommen.
Text : Monique Ryser Publiziert: Mai 2019
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