Vergängliche Kunst

Das authentische Dorf im Val d‘Hérens erreicht man mit ÖV in 45 Minuten ab Sion. Die Dent Blanche dominiert die Szenerie – auch im beschaulichen Skigebiet.

Von der Pariser Banlieue ins pittoreske Evolène: Marcio Morais hat hier sein Paradies gefunden. Als Bergbahnmitarbeiter überzeugt er mit Charme und als Künstler mit seinen Schneeskulpturen.

Vom Schneehaufen zum Kunstwerk, Wallis, Schweiz

Vom Schneehaufen zum Kunstwerk

Das Knattern einer Motorsäge unterbricht die Stille in der Bergwelt. Oberhalb der Bergstation des Sessellifts stiebt eine Schneewolke in die Höhe. Marcio kniet auf einem gewaltigen Schneehaufen und fräst Konturen in den hart gefrorenen Schnee, entfernt hier einen Keil, bessert da noch etwas nach. Eine riesige Schneeskulptur erhält ihren letzten Schliff – ein Lastwagen in Echtgrösse.

Ich sehe mich nicht als Künstler. Ich glaube, jeder kann etwas mit seinen Händen erschaffen, Wallis, Schweiz
«Ich sehe mich nicht als Künstler. Ich glaube, jeder kann etwas mit seinen Händen erschaffen.»
Marcio Morais

Als Zeitvertreib zur Kunst gefunden

Alles begann, als Marcio vor einigen Jahren noch ganz zuhinterst im Val d‘Hérens am Skilift von Arolla arbeitete. In ruhigen Zeiten fing der Liftarbeiter an, Schneehaufen um sich herum zu Skulpturen zu formen. Die Gäste reagierten begeistert ob der unerwarteten Kunst am Berg. Was ihn wiederum antrieb, jeden Winter etwas noch Verrückteres zu kreieren: eine Katze, einen Drachen, wilde Fratzen – oder wie zuletzt einen ganzen Lastwagen. Seine Skulpturen sind hohl und begehbar. «Eigentlich bohre ich Galerien in den Schnee. Aussen entsteht die Skulptur, innen eine Serie von Miniskulpturen.»

Die Betreiber der Bergbahnen erkannten bald den Mehrwert eines Mitarbeiters wie Marcio. Das Erschaffen von Schneeskulpturen ist seit Kurzem offiziell Teil seines Jobs. Jetzt wird mit der grossen Kelle angerichtet. Anfangs Winter helfen Pistenmaschinen, einen immensen Schneeberg anzuhäufen. Wenn sich dieser gefestigt hat, legt Marcio los – stundenweise, tagelang. Mit der Motorsäge fräst er Blöcke aus dem Inneren und schichtet diese aussen auf. Es entsteht ein Lkw aus Schnee: 15 Meter lang, gut vier Meter hoch und ebenso breit. Für die Feinarbeit greift der Schneekünstler zur Säge, später zu kleineren Schaufeln oder gar zum Brotmesser. Das Innere gleicht einer Kathedrale: Ein dreieinhalb Meter hoher Raum verziert mit Fresken, Tieren und Formen – liebevoll ausgeschmückt mit Kerzen, farbigen Lampen und Schaffellen zum Sitzen.

Kunstvoll verziert und liebevoll geschmückt: im Bauch von Marcios Schneeskulptur, Wallis, Schweiz
«Zu sehen, wie sich die Menschen freuen und wie sie staunen – das ist es, was mich antreibt.»
Marcio Morais

Marcio ist mit seinen Schneeskulpturen zum Botschafter der kleinen Tourismusdestination geworden Skilehrer, Einheimische und Gäste schauen während der Entstehung vorbei. Wenn die Skulptur fertig ist, wird sie zu einer Art Treffpunkt und zu einem beliebtem Fotosujet der Besucher – aber auch ihres Schöpfers. «Die Gäste folgen mir auf Instagram und Facebook. So kann ich mit ihnen meine schönsten Momente und meine Werke teilen – auch wenn sie schon wieder zu Hause sind.»

Skifahren nach getaner Arbeit, Wallis, Schweiz
«Schau dich um, diese Bergwelt – da willst du nie mehr weg.»
Marcio Morais

Dent Blanche statt Eiffelturm

Aufgewachsen in den Pariser Banlieues, waren Schnee und Berge für Marcio ein halbes Leben lang höchstens aus dem Fernseher bekannt. Mit 18 verlor er seinen Vater, folgte seiner Mutter in die Schweiz – und verliebte sich sogleich in die Region. «Evolène hat etwas ganz Spezielles. Jeder kennt hier jeden, es ist wie eine grosse Familie», schwärmt er über seine neue Heimat. «Und diese Umgebung!» Marcios Blick schweift über das Panorama. Die Bergwelt hier ist tatsächlich imposant, dominiert von der allgegenwärtigen Dent Blanche, diesem majestätischen Viertausender, und umrahmt von zig weiteren prachtvollen Gipfeln und Gletschern.

Skigebiet der Sorte «Geheimtipp»

Marcio kann sich keinen schöneren Ort vorstellen, um zu leben und zu arbeiten. «Als Liftangestellter muss ich nie frei nehmen, um Ski zu fahren. Wir sind jeden Tag auf dem Berg», schmunzelt er. Das Leben am Berg und das Skifahren sind zu seiner grossen Leidenschaft geworden. «Das Skigebiet von Evolène ist ein Geheimtipp. Total familiär. Und man muss hier fast nie anstehen», verrät er. Mehr noch: Dank seiner Ausrichtung sind die Pisten sonnenverwöhnt und doch schneesicher, denn die Lifte erreichen über 2600 m. ü. M.

Nach seinem Dienst am Skilift verweilt Marcio oft noch einen Moment bei seiner Schneeskulptur, Wallis, Schweiz

Muss man in Evolène machen: 3 Insidertipps von Marcio

Nach seinem Dienst am Skilift verweilt Marcio oft noch einen Moment bei seiner Schneeskulptur. Mal, um etwas fertigzustellen, mal, um mit Freunden ein Fondue im Inneren der Skulptur zu geniessen, mal, um ganz allein um den Tag ausklingen zu lassen. «Die Ruhe, die sich abends über den Berg legt, das Licht der untergehenden Sonne – diese Momente sind einfach unbeschreiblich», schwärmt er. Mit Kerzen und farbigen Lampen geschmückt inszeniert er den Schnee-Lkw liebevoll. Und ist im Kopf bereits bei künftigen Projekten: «Einmal in Alaska oder Kanada an einem Wettbewerb etwas wirklich Grosses zu erschaffen», davon träumt er. Oder hier in Evolène Iglus zum Übernachten bauen. Und eine ganze Skulpturenlandschaft, ein enormes Schloss für die Kinder. Wer weiss, was Marcio als Nächstes aus dem Schnee zaubert.

Quelle: myswitzerland.com
Publiziert: August 2021

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