Die Weltbeste
Elfmal Weltmeisterin, 34 Kristallkugeln und 133 Weltcupsiege - das ist der Palmarès von Amélie Reymond, der Walliser Ausnahmekönnerin im Telemark.
Snowboarden findet sie casse-pied. Übersetzt man das nett auf Deutsch, heisst es so viel wie stinklangweilig. Aha, aber selbst betreibt sie doch den Altherrensport Telemark, wagt man einzuwenden. Amélie Reymond ist zu höflich und zu charmant, als dass sie auf diese Bemerkung mit gleicher Münze zurückgeben würde. Vielmehr erklärt sie, was Telemark einem abfordert: Kraft, Ausdauer und ein hohes Mass an Koordination und Gleichgewicht. Insgesamt drei Disziplinen muss man im Weltcup beherrschen, die alle ähnlich tönen wie alpine oder nordische Disziplinen, aber immer noch Spezialschwierigkeiten eingebaut haben. Beim Riesenslalom beispielsweise gehört ein rund 25 Meter langer Sprung dazu, der von Punkterichtern bewertet wird. Zur Disziplin Classic gehören ein Riesenslalom, eine Skatingstrecke, ein Sprung und das Fahren einer 360-Grad-Steilwandkurve. Rund drei Minuten dauere ein solcher Lauf, so Reymond. "Das braucht Kondition und hohe Konzentration, denn vor allem in der Steilwandkurve fühlt man sich wie in einer Waschmaschine." Im Parallelsprint, der kürzer ist, treten zwei Athletinnen gleichzeitig gegeneinander an. "Das ist für die Zuschauerinnen und Zuschauer sehr spektakulär. Und für uns Fahrerinnen nicht ganz einfach, da wir bis zu sechs Runden gegen verschiedene Konkurrentinnen absolvieren müssen."
Telemark – das war der Anfang des Skisports, 1860 erfunden von einem Norweger. Fast hundert Jahre war es die einzige Art, mit Ski die schneebedeckten Hänge hinunterzukommen. Die Ski waren gerade geschnittene Holzlatten, und um überhaupt eine Kurve fahren zu können, brauchte es eine spezielle Technik: Mit dem Beugen des Knies auf der Bergseite verlagerte man den Druck auf den Ski und leitete so die Kurve ein. Den Ruf des Altherrensports hat die Sportart aus dem einfachen Grund, dass in den Sechziger- und Siebzigerjahren ältere Skifahrer immer noch mit dieser Technik die Hänge hinunterkurvten. Doch längst schon ist der Telemark eine eigene Sportart mit neuen Anforderungen, eigenem FIS-Rennkalender und einer elfköpfigen Equipe bei Swiss-Ski.
Seit zehn Jahren gehört Amélie Reymond zur Nationalmannschaft, und sie ist im elfköpfigen Team mit vier Frauen und sieben Männern die bei Weitem erfolgreichste Fahrerin. Vor zehn Jahren hat sie voll auf Telemark gesetzt und seitdem Titel um Titel geholt. Seit 2009 dominiert sie den Weltcup, nur 2013 musste sie einer Norwegerin Platz machen. Telemark erfordere sehr viel Training, erklärt die 30-Jährige. Die Absolventin der ETH Zürich mit einem Master in Biomechanik arbeitet 80 Prozent im Gesundheitsdienst des Kantons Wallis und trainiert fast täglich. Morgens auf die Piste, über Mittag in den Kraftraum, abends Kondition. «Obwohl ich schon seit Jahren auf höchstem Niveau Sport treibe, ist es mir doch noch nie verleidet. Das ist auch ein grosses Glück, so bin ich immer motiviert», sagt sie. Man glaubt es sofort, denn sonst wäre wohl nicht möglich gewesen, dass sie – währendem ihre Telemark-Karriere bereits in vollem Gange war – noch Reck-Vize-Schweizer-Meisterin im Geräteturnen wurde. «Geräteturnen ergänzt sich gut mit den Fähigkeiten, die ich im Telemark benötige: Kraft, Beweglichkeit und exakte Ausführung. Und auch im Telemark wird, wie im Geräteturnen, die Haltung und die technische Ausführung von Juroren bewertet.»
Amélie Reymond ist in Basel geboren und in Sion aufgewachsen. Die Eltern gingen mit ihr schon als kleines Kind auf die Skipiste. Bald wurde ihr Talent erkannt, und sie trainierte mit dem Skiclub. Bereits mit 13 fuhr sie Alpin-Skirennen, mit 17 entdeckte sie dann den Telemark. Im Skiclub traf sie auf Françoise Besse-Matter, Weltmeisterin im Telemark, die in ihr das Ausnahmetalent erkennt und sie fördert. «Ich musste das Skifahren neu lernen», erinnert sich Amélie. Der Einsatz hat sich gelohnt. «Ich konnte dank des Sports durch die halbe Welt reisen. Das ist ein grosses Privileg.» Wichtig sei ihr auch, dass man beim Skifahren immer in der Natur sei. «Das Umgehen mit dem Wetter, den verschiedenen Arten Schnee und den Temperaturen gehört bei einem Rennen dazu. Ich finde das spannend.» Schnee und Berge sind ihr «lebenswichtig». Sie muss raus, wandern, biken, rollerskaten, bergsteigen, skifahren. «Ich versuche auch in der Freizeit möglichst verschiedene Fertigkeiten auszuleben und zu trainieren.» Beim regelmässigen Joggen hat sie seit geraumer Zeit jeweils Gesellschaft: In Zürich, während des Studiums, konnte sie sich nicht nur perfekt auf die Saison vorbereiten, sondern lernte dort auch Christoph Wenger kennen. Im Juli haben die beiden geheiratet, Amélie im eleganten weissen Brautkleid, was sie aber nicht daran hinderte, aufs Mountainbike zu steigen und eine steile Abfahrt zu wagen. Kann sie etwas in ihrem sportlichen Treiben stoppen? «Nun, zumindest die kommende Weltkampfsaison werde ich für einmal auslassen. Denn wir erwarten unser erstes Kind», sagt sie und strahlt.
Doch nach der Geburt plant sie wieder Vollgas zu geben. «Viele Weltspitzensportlerinnen machen das ja vor.» Und überhaupt: Mit dem Olympiaprojekt Sion 2026 hat sie noch ein grosses Ziel vor sich. «Erstmal müssen wir die Spiele erhalten, und dann will ich natürlich in meiner Heimat dabei sein.» Sie ist überzeugt, dass Olympische Spiele dem Wintersport in der Schweiz einen grossen Ruck geben würden. «Es wird die ganze Bevölkerung motivieren, die weltbesten Sportler hautnah mitzuerleben. Das ist gut für den Nachwuchs und für all die Kinder, die dadurch die Freude am Sport entdecken.» Ab der Saison 2018/19 will sie also wieder auf den Pisten dieser Welt unterwegs sein. Diesen Winter bleibt sie im Wallis. «Hier haben wir schliesslich auch die schönsten Skigebiete und dank der Höhe auch genügend Schnee.» Besonders gerne tobt sie sich im Neuschnee und auf Freeridepisten aus. Von Sion aus, wo sie mit Christoph wohnt, ist es nur ein Katzensprung ins Skigebiet. «Wir haben so Glück, in einer Region zu leben, wo ich Berge und Schnee gleich vor der Haustür habe.»
Text: Monique Ryser Fotos: David Carlier Publiziert : 2017
Der Walliser Bergfloh
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